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Aber das Obst ist Nebel

Hessische Apfelwein- und Obstwiesenroute von Eschborn nach Frankfurt; 2011-01-10

Hessische Apfelwein- und Obstwiesenroute von Eschborn nach Frankfurt im Nebel; Foto

Der Trauersaal war künstlich verdunkelt gewesen. Nach dem unruhigen Goldgeflimmer und Schlagschatten des Kerzenlichts, dem süßen Modergeruch weitgereister Totenkränze, blendete draußen der lichte, klare Frühlingstag, wehte die Luft würzig herbe und rein. Es war da hinter den Wirtschaftsgebäuden von Zackenzin, die in ihrem riesigen Ausmaß den Stallungen und Reitbahnen einer Kaserne glichen, eine ebenso weite Obstwiese, Hunderte von Bäumchen standen schachbrettförmig auf dem grünen Boden, alle gleich groß, alle je drei Meter vom Nachbar entfernt, alle mit dem ersten rötlichweiß vor dem blaßblauen Aprilhimmel zitternden Apfelblust in der noch kahlen Krone. Sie sahen aus wie die gleichförmigen Muster einer Blümchentapete an der Wand. Etwas Schwarzes spielte im Winde durch die pedantische Lieblichkeit des Frühlingsbildes. Ein langer dunkler Florschleier mitten im Blütenschnee. Klothilde von Spängler hatte sich auf die Fußspitzen erhoben, um sich einen der kleinen, weißen Zweige zu brechen. In Mondnächten atmet sie sogar weiße Nebel aus. Aber niemand sieht es. Nebelwesen; man weiß nicht ob sie steigen, sinken, sich erzeugen oder verzehren, wegziehen oder sich herabstürzen. Ziehende Wolken machen Teile der Wiese plötzlich dunkel, während andere Teile wieder plötzlich stärker erglänzen infolge des Windes, der die Halme legt. Verlorene Baumgruppen stehen da wie kleine Inseln, ein bißchen Schatten spendend für niemand. Um die ganze riesige Wiese herum führt ein Spazierweg, hart an dem dunklen Tannenwald an. Die Sonne extrahiert aus Wiese und Wald einen intensiven Parfüm. Man müßte ein Büchlein schreiben nur über Wiesen. Die Wiese, dort, »wo die Großstadt abrinnt, abtropft«, dicht besetzt, belegt mit Kindermädchen und Kindern, vom Staub der nahen Landstraße gemartert, und absterbend, dennoch ein wenig Erholung spendend, in späten Abendstunden vielleicht sogar Glück – – –

Die wunderbare Bodenwiese auf dem Gahns, dem Vorberge des Schneeberges, über die man zwei Stunden lang geht und die 100 Mäher vier Wochen lang abmähen. Das edle Kohlröserl blüht dort zahlreich, das sanft nach Schokolade duftet.

Dann die feuchte Wiese, durch die ein Bächlein fließt. Die trockene kurzgrasige ausgedörrte Wiese.

Die Wiese, die infolge von bestimmten Halmen mehr braun aussieht. Die Wiese, die infolge bestimmter Blüten mehr weiß aussieht. Die gelbe Wiese. Die lila Wiese. Die kurzen Wiesen auf dem Hochschneeberg, belegt mit dicken grauen Schneeflecken und dichtem schwarzen Zirbelholzgestrüpp. Die wie künstlich gefärbte Wiese im Hausgärtchen, bespickt mit zarten Rosenstöckchen. Die Wiese auf dem englischen Landsitz, die erst durch dreihundertjährige Züchtung zu dem geworden ist, was sie ist, die edelrassige Wiese. Der Alte, der den Rehbock erwürgt, wenn er ihn in seiner Obstwiese erwischt und ihn dann zum Festmahl macht. Ein Dasein, in dem der Schmerz zur Natur gehört, ein Gelände einen Fluch behalten kann und das Weggeworfene so schnell seinen Sinn nicht verliert. Was Bernhard Kathan in ein gedankenreiches Mosaik fügt, liest sich wie eine Erzählung vom schlichten Leben. Menschengeschichten, Landleben, aber grundiert von kulturhistorischer Erfahrung und einem Nachdenken über die medizinische Entsorgung der Sterbenden. Der Essayist würde sagen: »Kehren wir nun nach dieser kurzen Abschweifung zu unserem ursprünglichen Thema zurück – – –«.

Wir ließen die Kühe an uns vorbey. Fichten verschwinden ganz, Teufelsbrücke, rechts ungeheure Wand, Sturz des Wassers, Stieg, Sonne, Nebel, starker Stieg, Wandsteile der ungeheuern Felsen, Enge der Schlucht, drey große Raben kamen geflogen, die Nebel schlugen sich nieder, die Sonne war hell. Aber das Obst überhaupt ist doch für den achtundvierzigsten Grad nicht besonders gut. Man klagt hier durchaus über Kälte und Nässe. Oder wiegen sich und zappeln lauter Leichen im Geäst?

Ziehende Wolken